Ich habe einige außergewöhnliche Behandlungsansätze, die sich nicht in Büchern wiederfinden. Diese sind meist konsequent weitergedachte schulmedizinische Betrachtungsweisen. Um mich und meine Arbeit besser kennenzulernen, stelle ich diese hier dar. Ich diskutiere diese gerne mit Ihnen und stelle etwas pointiert dar, um zum Austausch anzuregen. Dieser Blog ist weder Ausbildung, noch zum Nachahmen gedacht und ersetzt keine ärztliche Beratung oder Therapie. Aber vielleicht lachen Sie. Und dann vielleicht doch.
„Was häufig ist, ist häufig und was selten ist, ist selten!“ Dies ist einer der ersten Lehrsätze des Medizinstudiums. Damit will der Professor sagen, dass man als erstes an die wahrscheinlichen Diagnosen denken soll. Wenn im Wartezimmer einer Hustet, ist es wahrscheinlich Husten und keine Tuberkulose. Warum muss man das überhaupt erwähnen? Als Arzt beschäftigt man sich mit allen Krankheiten. Ich habe im Studium sehr viele Stunden mit der Tuberkulose verbracht. Es gab kaum eine Unterrichtsstunde, die sich mit Husten beschäftigte. Entweder zu profan oder zu leicht zu behandeln, im Gegensatz zur Tuberkulose. Wenn ich also Jahre mit dieser Krankheit verbracht habe und dann jemand hustet, muss es ja Tuberkulose sein, oder? Unnötig zu sagen, dass ich nie eine gesehen habe. In den ärztlichen Prüfungen spiegelt sich das wieder. Jedes Jahr werden von 100 Fragen die 20 Fragen aussortiert, die jeder richtig gemacht hat. Wenn sie offensichtlich jeder kann, braucht man sie ja nicht zu fragen, oder? Nach 20 Jahren gibt es nur noch Fragen, die weder jemand beantworten kann, noch irgendjemand interessieren. Es geht nur noch um Ausnahmen von Spezialfällen, die nie jemand zu Gesicht bekommen hat. Und weil die Studenten gerne bestehen, lernen sie genau diese. Deswegen weiß man mehr über die seltene Unterart der Pest von 1348, als über Wadenkrämpfe. Immer mit der Begründung, dass „irgendwo in Indien“ bestimmt noch die Pest existiert. Irgendwo in Indien gibt es übrigens alles, was man niemals erleben will. Leider haben die Inder die Angewohnheit, einmal im Jahr im Ganges eine rituelle Waschung durchzuführen. Wenn also alle Inder aus Irgendwo kommen, bringen sie diese seltenen Kleinodien der medizinischen Spezialliteratur gleich mit. Und Sie stehen mit der Kamera daneben und baden die Fuße im Fluss. Wenn es die Einheimischen tun, passt man sich ja gerne an. Deswegen zünden wir in katholischen Kirchen Kerzen an, opfern eine Lotusblume in Thailand und probieren das Curry am Strassenstand in Shanghai. Also rein mit dem Flunken in den Fluss. Für irgendwas muss ich das ja studiert haben.
Für eine meiner ersten Prüfungen habe ich gelernt, dass die durchschnittliche Überlebenszeit eines roten Blutkörperchens 120 Tage beträgt. Damals war ich naiv und wusste noch nichts von der Natur des Studiums. Spannend ist, dass ich mich nie gefragt habe, wen das interessieren würde, wie alt ein Blutkörperchen wird. Vielleicht hat man erwartet, dass ich zum 100sten eine Karte schreibe. Ich also mit dem Bleistift bei der Prüfung. Frage 1: Wie alt wird durchschnittlich ein rotes Blutkörperchen. Alles klar, weiß ich. Antwort A: 119,75 Tage, B: 119,79 Tage, C: 120, 21, D: 120,25 Tage. Wahrscheinlich wird es keinen interessieren, dass es Antwort A war. Und noch wahrscheinlicher wird es keinen interessieren, warum ich das noch weiß. Weil es wichtig sein muss, sonst hätten sie mich nicht damit gequält, schätze ich.
Jetzt sitzt ein typischer Patient in der Praxis, von der Hausärztin überwiesen. Beamter, schlapp (man beachte das Komma, das Wort und Inhalt trennt), schon leichte Beanspruchungen bringen ihn an den Rand der Belastbarkeit. Konzentrationsstörungen, Zittern, Reizbarkeit, depressive Symptome. Also typisches Burnout mit einer reaktiven Depression. Möglicherweise auch eine Depression mit körperlicher und geistiger Erschöpfung, im Nachhinein schwer zu unterscheiden. Und für die die das wundert, sehr häufig bei Beamten. Aber darüber schreibe ich mal einen eigenen Blog. Die Laborergebnisse bringen das typische Bild: Niedriges Serotonin, niedriges Kupfer und Zink, die üblichen Verdächtigen. Cortisol auffällig, wie aus dem Lehrbuch. Typische Behandlung: Sport, Entspannung, Infusionen, Ausschaltung der Stressparameter und schon nach drei Monaten: Nichts. Kein Nährstoff kommt an, wird alles wieder verbraucht. Darmuntersuchung: Reizdarm, Dysbiose, also viele schlechte Bakterien, wenig gute. Leaky Gut, also kaputte Membranen, die viele Schadstoffe durchlassen. Kein Problem, gute Behandlung, etwas intensiviert, um den Erfolg sicherzustellen. Immerhin möchte ich nach dem ersten Fehlschlag nicht gleich wieder eine Enttäuschung provozieren. Und nach kurzer Zeit bemerkte man bereits: Nichts. Jetzt hieß es, die Ärmel hochkrempeln. Mit dem Patienten gehen wir die Anamnese durch, wobei ich die ganzen therapeutischen Interventionen an dieser Stelle beiseite lasse. Nach einiger Zeit stossen wir bei der Suche auf die Tatsache, dass er ein Medikament bis vor kurzem einnahm, das für die Behandlung von Prostatavergrößerungen vorgesehen war. Man hat bei diesem Medikament herausbekommen, dass es auch männlichen Haarausfall stoppt. Daher wird es sehr gerne für diesen Zweck genommen und wenn ich davon früher erfahren hätte, könnte ich Ihnen ganz genau sagen, ob es wirkt oder nicht. Da wir dabei sind, jeden Stein umzudrehen, stossen wir auf eine Studie im Journal of sexual Medicine: Da fanden wir, dass schon nach kurzer Einnahme lang anhaltende Nebenwirkungen auftreten können, die gar nicht mal so selten sind (Abdulmaged M. Traish PhD et al., „Adverse Side Effects of 5α-Reductase Inhibitors Therapy: Persistent Diminished Libido and Erectile Dysfunction and Depression in a Subset of Patients“ (2011) The Journal of Sexual Medicine Vol. 8(3), pages 872-884):
Schüttelfrost/ Schweissausbrüche
Verwirrung, Schwäche, Schwindel (z. B. beim Aufstehen aus einer liegenden oder sitzenden
Position)
Schwellungen im Gesicht, den Lippen, an den Armen, Beinen oder Füssen
Rötung der Haut und Hautausschläge (Nesselsucht)
Plötzliche Gewichtszunahme
Fliessschnupfen, verstopfte Nase
Schläfrigkeit
Depressionen
Hodenschmerzen
Brustkrebs bei Männern
Unfruchtbarkeit
Nun, von den letzten Punkten mal abgesehen, fanden wir fast alle Punkte wieder. Ständige Erkältungen, Schwäche, Depressionen, Schwindel und Schweißausbrüche. Ein sehr seltener Fall, wo eine typische Symptomatik nicht die typische Ursache hat, sondern eine sehr seltene. Wo man sich mit dem Patienten auf Augenhöhe zusammensetzen muss, sein Unwissen eingesteht und Hausaufgaben verteilt, für Arzt und Patient, um alle Möglichkeiten zu untersuchen und recherchieren. An dieser Stelle lernen die Patienten spätestens meinen Leitsatz kennen, dass jeder Patient Experte für seine eigene Krankheit werden muss. Wie anders sollten sie jemals alleine und ohne mich zurecht kommen oder in schwierigen Situationen gleich das Richtige tun?
Zwei Sachen möchte ich an dieser Geschichte nicht unerwähnt lassen: Auch bei dieser Diagnose kann es sein, dass wir falsch liegen und weitersuchen müssen. Das wird sich in den nächsten Wochen entscheiden. Die Schwierigkeit besteht darin, immer wieder sportlichen Ehrgeiz zu entwickeln und weiter zu suchen. Das zweite ist, dass ich dachte, dass die überweisende Hausärztin froh über unsere Entdeckung war, weil der recht junge Patient erst jetzt eine Chance hat, nach vielen Jahren endlich gesund zu werden. Das war nicht der Fall. Im Gegenteil flippte sie geradezu aus, warum ich in ihrem Gebiet herumpfuschen würde. Es sei ihre Aufgabe, die Patienten körperlich zu behandeln. Könnte ich viel zu sagen, lass ich aber mal. Entspricht nicht meinem Gedanken von ganzheitlich und ich hoffe, dass sie gelegentlich auch mit den Patienten spricht und nicht glaubt, dass das mein Gebiet sei. Ich freue mich sagen zu können, dass der Ausraster nicht vor dem Patienten stattfand, sondern beim Abendessen mit Freunden, von denen eine Freundin meine Praxispartnerin war. Erinnert mich an den Kardiologen, der einen netten, 40 jährigen Bänker wegen Rhythmusstörungen am Herzen operieren wollte und weil dieser Angst vor der OP hatte, ihn zu mir überwies. Im Vollblut fand sich eine massive Kaliumentgleisung, die im Serumblut schwer zu erkennen ist. Die haben wir ausgeglichen, Rythmus war ok, Operation abgesagt. Ich schätze, Sie ahnen wie die Geschichte ausgegangen ist. Daher bekomme ich zumindest keine Patienten mehr.
An alle jungen Kollegen da draußen: Schreibt erst alle Diagnosen auf, die Euch einfallen und macht dann eine Reihenfolge der Wahrscheinlichkeit. Arbeitet die dann ab und wenn die Liste zu Ende ist und der Patient noch nicht gesund müsst Ihr die Ärmel hochkrempeln und noch mal nachdenken. Geht natürlich nicht, wenn Ihr nur 2 Minuten pro Patient Zeit habt. Oder macht es so, wie mein guter Freund und Mentor aus Northeim immer sagte: „Frank, bei schwierigen Fällen, ruf mich dazu, damit wir gemeinsam überlegen können und ich noch mal selbst untersuchen kann.“ „Aber wie erkenne ich einen schweren Fall?“ „Schwere Fälle sind jung, weiblich und gutaussehend.“ Manchmal kann es so einfach sein!